Andrea von Lüdinghausen

Gegenbilder

Hinter einem Bild liegen immer weitere Bilder. Bilder, nicht nur im gegenständlichen Sinne, sondern auch Denkbilder, Assoziationen, Wunschbilder oder auch Klischees. Schon technisch gesehen, bestehen die 36 Photomontagen im »Posttunnel« aus zwei Bildern.
    Ausgangspunkt sind die Porträts von Passanten, die von der Künstlerin direkt im Tunnel interviewt und dann photographiert wurden. Angesichts der beklemmenden Atmosphäre solcher Tunnel war die Frage naheliegend: Wo wären Sie jetzt am liebsten? Eine Auswertung der über 100 Interviews brachte ein überraschendes Ergebnis. Ein Drittel der Befragten wünschte sich, in der »Südsee« zu sein. Trotz aller Umbrüche der Moderne hat sich also diese Wunschvorstellung, die von Zeitgenossen der EntdeckungAufbausreisenden erfunden wurde, gehalten. Daß einige der Reisenden, wie etwa Georg Forster, dieses »Südsee-Bild« für verfälscht hielten, hat der Popularität dieser »Utopie« offenbar keinen Abbruch getan. Forster kritisierte damals, daß Menschen und Landschaften der Südsee »sowohl der Form als der Drapperie nach, im Geschmack der Antike gezeichnet« seien. Das griechische »Arkadien« ist also selbst noch in Eisenbahntunneln lebendig.
    Die anderen Antworten der Tunnelgänger bezogen sich auf konkrete Reiseziele (Paris, Mallorca), das eigene Heim (gemütliches Wohnzimmer oder Schlafzimmer mit erotischen Anklängen) oder die Heimat (bei Ausländern und Nicht-Hannoveranern). Einige wären auch lieber an Orten gewesen, wo es keine anderen Menschen gibt (z. B. auf dem Mars).
    In einer zweiten Arbeitsstufe wurde hinter die Aufnahmen der Tunnelgänger der Hintergrund montiert, den sie sich im Gespräch gewünscht hatten. Dieses Verfahren könnte als Umkehrung einer Technik angesehen werden, die es schon in den Anfängen der Photographie gab und hier und da auch als Jahrmarktsattraktion diente: man stellte die zu photographierende Person vor einen gemalten Hintergrund oder ausgewählte Objekte und (ausgestopfte) Tiere. Während bei dieser Technik versucht wurde, eine Fiktion von Realität zu schaffen, hat Andrea v.Lüdinghausen die beiden Bilder so montiert, dHawaiiaß die Personen, die in Lebensgröße im  Vordergrund stehen, nicht mit dem Hintergrund verschmelzen. Dieser sichtbare Abstand ist ein Hinweis auf die Differenz zwischen der Wunschvorstellung der Befragten und der optischen »Übersetzung« durch die Künstlerin. Möglicherweise befinden sich diese speziellen »arkadischen« Wunschbilder ja nicht in den Köpfen der Tunnelgänger, sondern kommen durch die Interpretation der Künstlerin zustande.
    Dieser Verfremdungseffekt bei der Umsetzung von Text in Bild verweist überdies auf die innere Gebrochenheit von Wunschvorstellungen. Einerseits geht es darum, sich an Orte oder in Situationen zu versetzen, die deutlich anders als das Vorfindliche sein sollen, andererseits orientieren sich diese Vorstellungen an vorhandenen Mustern oder Klischees. Die Traumlandschaften erweisen sich als AbziehbilHängematteder einer künstlich geschaffenen Realität, ganz gleich, ob diese Folien von den »klassischen« Schriftstellern und Künstlern oder der Werbung fabriziert wurden. Die Photomontagen wären also Gegenbilder zu nicht-vorgefertigten Wunschbildern.
    Die Vitrinen oder Schaukästen, in denen die Bilder ausgestellt sind, wurden früher ausschließlich für kommerzielle Werbung benutzt, die in der Regel Wünsche produziert, welche das Begehren im Hier und Jetzt festhalten. Dort Bilder zu zeigen, die auf den ersten Blick zwar entfernt an Reklame erinnern, bei denen sich aber auf den zweiten Blick die Frage stellt, wofür denn nun eigentlich geOstseeworben wird, führt beim Betrachter zu einer gewissen Irritation: Kein Markenname, kein Firmenlogo, kein Werbespruch. Ein typischer Ort für Werbung wird offenbar benutzt, um diese selbst bloßzustellen. Anders gesagt, die geballte Darstellung vorgefertigter Utopien führt zu der Frage, wo denn »Utopia« eigentlich liegt. Eine mögliche Antwort: Vielleicht in der Transition, im Hindurchgehen und Verlassen von Situationen und Orten, die eine allzu feste Ordnung haben und die Phantasie an die Leine legen - in Tunneln, die man nur betritt, um sie zu verlassen.

[Ronald Voullié im Ausstellungskatalog Der eigentliche Ort, Hannover 1999]

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