Gegenbilder
Hinter einem Bild liegen immer weitere Bilder. Bilder, nicht nur im
gegenständlichen Sinne, sondern auch Denkbilder, Assoziationen,
Wunschbilder oder auch Klischees. Schon technisch gesehen, bestehen die 36
Photomontagen im »Posttunnel« aus zwei
Bildern. Ausgangspunkt sind die Porträts von
Passanten, die von der Künstlerin direkt im Tunnel interviewt und dann
photographiert wurden. Angesichts der beklemmenden Atmosphäre solcher
Tunnel war die Frage naheliegend: Wo wären Sie jetzt am liebsten?
Eine Auswertung der über 100 Interviews brachte ein überraschendes
Ergebnis. Ein Drittel der Befragten wünschte sich, in der »Südsee« zu
sein. Trotz aller Umbrüche der Moderne hat sich also diese
Wunschvorstellung, die von Zeitgenossen der Entdeckungsreisenden erfunden
wurde, gehalten. Daß einige der Reisenden, wie etwa Georg Forster, dieses
»Südsee-Bild« für verfälscht hielten, hat der Popularität dieser »Utopie«
offenbar keinen Abbruch getan. Forster kritisierte damals, daß Menschen
und Landschaften der Südsee »sowohl der Form als der Drapperie nach, im
Geschmack der Antike gezeichnet« seien. Das griechische »Arkadien« ist
also selbst noch in Eisenbahntunneln
lebendig. Die anderen Antworten der
Tunnelgänger bezogen sich auf konkrete Reiseziele (Paris, Mallorca), das
eigene Heim (gemütliches Wohnzimmer oder Schlafzimmer mit erotischen
Anklängen) oder die Heimat (bei Ausländern und Nicht-Hannoveranern).
Einige wären auch lieber an Orten gewesen, wo es keine anderen Menschen
gibt (z. B. auf dem Mars). In einer zweiten
Arbeitsstufe wurde hinter die Aufnahmen der Tunnelgänger der
Hintergrund montiert, den sie sich im Gespräch gewünscht hatten. Dieses
Verfahren könnte als Umkehrung einer Technik angesehen werden, die es
schon in den Anfängen der Photographie gab und hier und da auch als
Jahrmarktsattraktion diente: man stellte die zu photographierende Person
vor einen gemalten Hintergrund oder ausgewählte Objekte und
(ausgestopfte) Tiere. Während bei dieser Technik versucht wurde, eine
Fiktion von Realität zu schaffen, hat Andrea v.Lüdinghausen die beiden
Bilder so montiert, daß die Personen, die in Lebensgröße im
Vordergrund
stehen, nicht mit dem Hintergrund verschmelzen. Dieser sichtbare Abstand
ist ein Hinweis auf die Differenz zwischen der Wunschvorstellung der
Befragten und der optischen »Übersetzung« durch die Künstlerin.
Möglicherweise befinden sich diese speziellen »arkadischen« Wunschbilder ja nicht in
den Köpfen der Tunnelgänger, sondern kommen durch die Interpretation der
Künstlerin zustande. Dieser Verfremdungseffekt
bei der Umsetzung von Text in Bild verweist überdies auf die innere
Gebrochenheit von Wunschvorstellungen. Einerseits geht es darum, sich an
Orte oder in Situationen zu versetzen, die deutlich anders als das
Vorfindliche sein sollen, andererseits orientieren sich diese
Vorstellungen an vorhandenen Mustern oder Klischees. Die Traumlandschaften
erweisen sich als Abziehbilder einer künstlich geschaffenen Realität, ganz
gleich, ob diese Folien von den »klassischen« Schriftstellern und
Künstlern oder der Werbung fabriziert wurden. Die Photomontagen wären also
Gegenbilder zu nicht-vorgefertigten
Wunschbildern. Die Vitrinen oder Schaukästen,
in denen die Bilder ausgestellt sind, wurden früher ausschließlich für
kommerzielle Werbung benutzt, die in der Regel Wünsche produziert, welche
das Begehren im Hier und Jetzt festhalten. Dort Bilder zu zeigen, die auf
den ersten Blick zwar entfernt an Reklame erinnern, bei denen sich aber auf den zweiten Blick die Frage stellt, wofür denn nun eigentlich
geworben
wird, führt beim Betrachter zu einer gewissen Irritation: Kein Markenname,
kein Firmenlogo, kein Werbespruch. Ein typischer Ort für Werbung wird
offenbar benutzt, um diese selbst bloßzustellen. Anders gesagt, die
geballte Darstellung vorgefertigter Utopien führt zu der Frage, wo denn
»Utopia« eigentlich liegt. Eine mögliche Antwort: Vielleicht in der
Transition, im Hindurchgehen und Verlassen von Situationen und
Orten, die eine allzu feste Ordnung haben und die Phantasie an die Leine
legen - in Tunneln, die man nur betritt, um sie zu verlassen.
[Ronald Voullié im Ausstellungskatalog Der eigentliche Ort,
Hannover 1999]
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